Wolfsburg – Schalke 1:1: Fußball wird zur Nebensache

Wolfsburg – Schalke 1:1: Fußball wird zur Nebensache

19. Dezember 2019 8 Von Susanne Hein-Reipen

Der 18. Dezember wird den Schalkern trotz eines verdienten Punktgewinns beim VfL Wolfsburg nicht in guter Erinnerung bleiben: Riesenstau bei der Anreise, Chaos auf den Parkplätzen und eine furchtbare Nachricht: Drüse, Allesfahrer und langjähriges Mitglied der Ultras Gelsenkirchen, ist vor dem Stadion zusammengebrochen und wenig später verstorben. Aus Respekt stellen beide Fanlager den Support ein, es ist buchstäblich totenstill. Susanne Hein-Reipen über einen über weite Strecken gespenstischen Abend…

Die DFL-Terminplaner helfen bekanntlich gerne, Schalker von lästigen Urlaubstagen zu befreien: Weite Auswärtsspiele wie Augsburg, Hoffenheim oder jetzt Wolfsburg werden bevorzugt auf den späten Sonntagabendtermin oder in englische Wochen gelegt. Schalker lassen sich dadurch jedoch nicht abschrecken, gut 4.000 machen sich auf den Weg Richtung Niedersachsen – und werden auf eine harte Geduldsprobe gestellt, denn ein LKW-Unfall bei Braunschweig legt die A 2 weitestgehend lahm. Wer Glück oder ein gutes Navi hat, schwenkt rechtzeitig auf die B 188 um und lernt Weltstädte wie Sorgensen, Hülptingsen und Uetze kennen.      

Parkplatzchaos und Einlass-Schikanen

In Wolfsburg angekommen, wird es nicht besser: Da in der Autostadt neben dem Fußballspiel auch noch Eishockey und einige Shows laufen, herrscht auf allen Anfahrten das blanke Chaos. Die Ordner sind völlig überfordert und nicht in der Lage oder bereit, Schalkern weiterzuhelfen. Die Anfahrt über die in der „Auswärtsinfo“ der Abteilung Fanbelange genannte Adresse ist nicht möglich, weil sie über einen Parkplatz führt, den man nur mit Schein benutzen darf. Die Beschilderung ist sch…lecht, die Beleuchtung ebenfalls, zahlreiche Einfahrten sind gesperrt, so dass viele Schalker schließlich kilometerweit von der VW-Arena entfernt auf Äckern hinter dem Parkplatz 4 stranden.

Dann heißt es hektisch marschieren, denn durch die vielen Verzögerungen drängt die Zeit, doch das ist kein Grund, das kategorische Gästefanverbot hinter der Nordkurve auszusetzen, damit alle zum Anpfiff im Stadion sind. Erst muss der Bogen um die Geschäftsstelle geschlagen werden, dann warten die üblichen zwei Kontrollringe und als Wolfsburger „Spezialität des Hauses“ sind wie bei früheren Gastspielen nur zwei der sechs vorgesehenen Durchgänge geöffnet, was das Prozedere weiter verzögert. Von innen sind bereits laute Schalke-Gesänge zu hören; durch den Tunnel kann man zudem die übliche Lightshow – Licht an, Licht aus – beim Einmarsch der Mannschaften erahnen.

Heimspiel in Wolfsburg

Pünktlich zu „Hurra hurra, die Schalker die sind da“ geht es die Treppe hoch. In der Damentoilette könnte man auf der Heizung problemlos einen Aufguss machen, mit Winterklamotten bricht einem selbst beim „kleinen Geschäft“ sofort der Schweiß aus. Dann: ENDLICH drin! Angesagtes Lied ist gerade „Wir komm‘ vom Berger Feld, Malocher ohne viel Geld“, auf dem Platz dominieren in den ersten Minuten die Hausherren.

Der freundliche Platznachbar hilft mit der Aufstellung: David Wagner startet mit Schubert, Kenny, Kabak, Oczipka, Miranda, Mascarell, Caligiuri, Serdar, Harit, Burgstaller und – überraschendes Saison-Startelf-Debüt – Reese. Unsere Kurve hat klar die akustische Lufthoheit und stimmt „Eine Stadt erstrahlt in Blau“, „Geh’n mit Dir auf jede Reise“ und „Um die halbe Welt sind wir gefahr’n“ an. Von den Heimfans ist bis auf gelegentliche „VfL, VfL“-Rufe nicht viel zu hören; „Steht auf für den VfL!“ wird seitens der Schalker mit höhnischem Gelächter quittiert. Der Wechselgesang SCHALKE! – NULLVIER! zwischen Unter- und Oberrang steht Heimspielen in nichts nach. Mit 24.651 Zuschauern ist die VW-Arena nicht ausverkauft, der Schalker Block ist gut 4.000 Köpfe stark.

Markus Schubert ist auf dem Posten

Amine Harit und Fabian Reese versuchen, mit offensiven Aktionen den Angriffswellen der Wölfe etwas den Druck zu nehmen, aber die Wolfsburger Defensive ist auf Zack und attackiert früh. Umgekehrt setzen die Stürmer die durch die Ausfälle von Stambouli, Sané, Nastasic und McKennie gebeutelte Viererkette unter Druck, ein Kopfball von Tisseyran geht nur knapp vorbei.  Ansonsten sind Bastian Oczipka und vor allem Ozan Kabak sehr aufmerksam und klären mehrfach zur Ecke. Es wirkt, als wolle die Mannschaft Markus Schubert so weit wie möglich unterstützen und entlasten – doch der zeigt sich sowohl bei einer Flanke von Roussillon (24.) als auch zwei wuchtigen Schüssen von Arnold (33.) und Tisserand (34.) hellwach und kassiert sofort Applaus des königsblauen Anhangs.

Der Fußball rückt in den Hintergrund

Doch dann rückt das durchaus spannende Spiel jäh in den Hintergrund: Die Ultras, die den Support-Takt vorgeben, schweigen; schnell spricht sich herum, dass es in den Reihen der Allesfahrer einen „medizinischen Notfall“ gegeben habe, etwas Näheres ist zu diesem Zeitpunkt nicht bekannt. Beide Kurven stellen den Support ein, das Spiel geht ohne weitere Aufreger mit 0:0 in die Pause.

Als Pausenunterhaltung dient der „America unlimited shot“, bei dem ein Ball von der Mittellinie, ohne den Boden zu berühren, ins Tor geschossen werden muss. Der erste Kandidat schlägt sich achtbar, sein Ball titscht erst im Strafraum auf; der zweite rutscht aus. Als Dritter tritt Gerald Schröder an, der 1998 als VfL-Profi gegen Schalke sein Bundesligadebüt feierte, aber auch sein Schuss endet im Nirwana. Anschließend folgt ein Interview mit Holger Ballwanz, mittlerweile Fanbetreuer bei den Wölfen. Er attestiert ein „tolles Spiel“, das längst „eine Wolfsburger Führung verdient hätte“. Schubert mache seine Sache top, ob Nübel vielleicht eine Gesichts-Operation gehabt habe…?

Tragödie überschattet die Schalker Führung

So richtig gut an kommen die Halbzeit-Jokes insbesondere in der Gästekurve nicht, denn alle fiebern Neuigkeiten über den verunglückten Fan entgegen. Schließlich verdichten sich die Gerüchte, dass er es leider nicht geschafft hat, gespenstische Stille senkt sich über den Schalker Block. Auch die Heimkurve schweigt – und zeigt ein Banner mit der Aufschrift „Ruhe in Frieden“. Jetzt gibt es kaum noch jemanden in der Arena, der keinen Kloß im Hals hat, einige wollen es noch nicht glauben. Der Gedanke, dass einer von uns nie wieder nach Hause kommt, nie wieder Schalke sehen kann, ist beklemmend.

Trotzdem: Fußball wird auch noch gespielt – und zwar von Schalke deutlich beherzter als noch im ersten Durchgang: Bereits die 1. Ecke nach der Pause landet bei Kabak, der im zweiten Anlauf zum 0:1 (51.) trifft. Der Jubel ist extrem verhalten, manchmal gibt es einfach Wichtigeres als Fußball. Nicht einmal die minutenlange Hängepartie, als der Videoschiedsrichter eine mögliche Abseitsstellung Kabaks überprüft – sonst ein Garant für Anti-DFB-Parolen – entlockt den Schalkern einen Mucks. Das Tor zählt.

Traurige Gewissheit

Ein kurzer Ansatz von Wolfsburger Support wird sofort ausgepfiffen, dann ergreift der Stadionsprecher das Wort und teilt den bisherigen Erkenntnisstand mit: Ein „tragischer Zwischenfall“ auf dem Weg zum Stadion „ohne jegliches Anzeichen für Fremdeinwirkung“ habe zum Tod des 41jährigen Fans geführt; er spricht Familie und Freunden des Verstorbenen und allen Schalker Fans aufrichtiges Beileid aus; wer möchte, kann sich an einen Notfallseelsorger wenden.

Das Entsetzen und die Fassungslosigkeit im königsblauen Block kann das nicht mildern, denn zunehmend spricht sich herum, dass der Tote „Drüse“ alias Christopher, der freundliche Hüne aus den Reihen der UGE und quasi überall am Start, wo Schalke auftrat, ist. Kaum ein Auswärtsfahrer, der ihn nicht zumindest vom Sehen kannte. Drüse tot, nie wieder dabei??? Keiner kann es fassen, keiner will es wahrhaben. Viele haben Tränen in den Augen und hängen ihren ganz persönlichen Erinnerungen an Drüse nach. Kälte und buchstäbliche Totenstille haben alle fest im Griff.

Auf dem Platz kommen derweil Benito Raman für Reese und Nassim Boujellab für Harit ins Spiel, das Spiel ist weitestgehend ausgeglichen. Den tatsächlichen und dem Spielverlauf nach nicht unverdienten Ausgleich erzielt Mbabu nach einer Ecke von Arnold (82.), bei der dem bis dahin starken Schubert der Ball durch die Finger flutscht. Aus der Schalker Ecke kommt kein Vorwurf, schließlich hat Schubert sich trotz fehlender Spielpraxis prima geschlagen. Deutlich nerviger ist der fröhliche Torjingle, der in die Stimmungslage passt wie die Faust aufs Auge.

In der vierminütigen Nachspielzeit kommt noch Timo Becker für Jonjoe Kenny, um ein paar Sekunden von der Uhr zu nehmen, es bleibt beim leistungsgerechten 1:1.

Keine Feierlichkeiten nach dem Schlusspfiff

Nach Feiern ist niemandem zumute, der Stadionsprecher erklärt, Wolfsburg verzichte „aus Rücksicht auf die Gästefans“ auf die üblichen Weihnachtsfeierlichkeiten und Weihnachtslieder und dankt nur kurz den eigenen Fans für die Unterstützung im ablaufenden Jahr, bevor er den Schalker eine gute Heimreise und viel Kraft wünscht.

Die Schalker Mannschaft kommt ebenfalls nur kurz in die Kurve; Fans und Mannschaft applaudieren sich schweigend gegenseitig. Vor den Sky-Kameras bricht derweil Sascha Riether das Interview ab: „Es ist ein trauriger Tag für uns, ein Mensch ist gestorben.“ Mit diesen Gedanken machen sich die Schalker auf die nächtliche Heimfahrt.