Schalke – St. Pauli 3:1: Totgesagte leben länger – und wie!

Schalke – St. Pauli 3:1: Totgesagte leben länger – und wie!

2. März 2024 0 Von Susanne Hein-Reipen

Der FC Schalke 04 besiegt den souveränen Tabellenführer St. Pauli vollkommen verdient mit 3:1 (1:0) und wird von den verblüfften und erleichterten Fans frenetisch gefeiert.  Susanne Hein-Reipen berichtet von einem rauschenden Fußballabend…

Die Stimmung der vergangenen Woche rund um Königsblau war gar nicht gut: Dem grottenschlechten Auftritt in Magdeburg folgen allerlei mediale Abgesänge, dazu droht aufgrund des ÖPNV-Streiks ein Verkehrschaos rund um die Veltins-Arena. Doch die überwältigende Mehrheit der Schalker schaltet in den Trotzmodus – „jetzt erst recht!“ -, schließt sich zu Fahrgemeinschaften und Wandergruppen zwischen Hauptbahnhof und Arena zusammen und pilgert rechtzeitig zum Berger Feld. Dort angekommen sind die Parkplätze erstmals mit Flatterbändern zu Reihen geordnet, damit der vorhandene Platz möglichst effektiv ausgenutzt wird. Einhellige Meinung: Das kann der Verein gerne beibehalten, um dem teilweise abenteuerlichen Kreuz-und-quer-und-nach-mir-die-Sintflut-Parken einen Riegel vorzuschieben.

Startelf mit Überraschungen

Dementsprechend früh stehen viele Schalker vor den Toren der Veltins-Arena, der Eingang Nord öffnet denn auch eine halbe Stunde früher als sonst. Als die anderen Eingänge geöffnet werden, sind die ohnehin oft knapp bemessenen weibliche Ordner absolute Mangelware, an den Eingängen Ost 1 und Ost 2 dürfen Schalkerinnen daher komplett unkontrolliert durchmarschieren. Zum Glück hat offenbar keine eine Bombe in der Handtasche gehabt.

Beim Fanspiel besiegt „Schenna“ die „Legion Blau-Weiß“ mit 3:2; im Vorprogramm geben zudem DJ Moguai, der zusammen mit Olaf Thon und Schalke-Lennart zugunsten von Schalke hilft! wettet, und zwei Vertreter des Esports ihre Visitenkarten ab. Als die Mannschaften zum Aufwärmen auf den Rasen kommen, tauschen die beiden Fanlager kurz erste Liebenswürdigkeiten aus. Die Heimstatistik macht Mut: Fünf Siegen stehen nur jeweils ein Unentschieden und eine Niederlage gegenüber, diese resultiert zudem aus den 50er Jahren. Mit 61.497 Zuschauern, davon gut 5.000 Paulianer, ist die Hütte trotz der erschwerten Bedingungen voll.

Nach der Aufstellung der Gäste folgt des Steigerlied, auch im Halbdunkeln ein Hühnerfell wert; dann stimmt die Nordkurve „Auf geht‘s Schalke kämpfen und siegen“ und „Schaaaalke und der FCN“ an. Bei Verlesung der Schalker Startelf gibt’s einige verblüffte Gesichter: Dauerbrenner Kaminski sitzt ebenso wie Churlinov und Brunner auf der Bank, Baumgartl ist nicht einmal im Kader, dafür stehen Neuzugang Soppy und der einige Zeit zu den Amateuren verbannte Kabadayi auf dem Rasen. Mit Müller, Soppy, Kalas, Schallenberg, Murkin, Seguin, Kabadayi, Ouwejan, Karaman, Lasme und Terodde geht es wieder zurück zur Viererkette.

Viele Banner und ein verblüffend stabiler Start

Zu den Klängen des Vereinslieds „Blau und Weiß, wie lieb ich Dich“ kommen die Mannschaften auf den Rasen und schwören sich ein, von Anfang lautstark unterstützt von der jeweiligen Kurve. Die Nordkurve steigt mit einer dröhnend lauten Version von „Geh‘n mit Dir auf jede Reise“ ein und freut sich, dass die Schalker anders als in der gruseligen ersten Halbzeit in Magdeburg, von Beginn an jedem Ball und jedem Zweikampf nachgehen. Nach zehnminütigem engagierten Hin-und-Her geht die erste Torchance an die Gäste, aber Müller verhindert mit einem eleganten Abtauchen, dass Metcalfes Schuss in der langen Ecke einschlagen kann (10.).

Beim FC St. Pauli hat sich Smith ohne Fremdeinwirkung verletzt und muss behandelt und kurz darauf durch Dzwigala ersetzt werden (12.). Die Behandlungspause nutzt die Nordkurve, um ein langes Banner mit der Aufschrift „Vom Spieler bis zum Aufsichtsrat: keine Floskeln, kein Gerede – ab jetzt zählen nur Ergebnisse!“ aufzuziehen, das auf breite Zustimmung stößt. Etwas umstrittener ist das in den Blöcken I und K gezeigte „DRAXLER, REIF, KIND, LANGE, NEURURER: REDEVERBOT FÜR SENILE ALTE MÄNNER“, da leider nicht alle Schalker immun gegen die perfide Stimmungsmache der „Opposition“ plus Springerpresse sind.

Wenig später legt die Kurve nach: „Keine Woche ohne Gewalt von den Cops – Bei der EM werden dann die Gäste geboxt?“ und „Kennzeichnungspflicht für Bullen“, dann liegt der Fokus wieder auf akustischem Support. „Wir lieben alle nur den FC Schalke, unsren Kumpel- und Malocherclub“, Attacke, der Wechselgesang Schalke! – Nullvier! und „Wir komm‘n vom Berger Feld“ unterstützen die Schalker Vorwärtsbemühungen, die häufig über Kabadayi laufen. Bei mehreren Schalker Ecken rückt sogar Keeper Müller bis über die Mittellinie auf.

Die umjubelte Führung vor der Pause

Mit zunehmender Spieldauer nimmt Schalke immer mehr auch offensiv das Heft des Handelns in die Hand; Murkin (30.), Ouwejan (37.) und mehrere Ecken treffen jedoch noch nicht ins Schwarze. Die Stimmung ist trotzdem bombig, „Auf geht’s Schalke schieß ein Tooooor“ wird auch von der Gegengeraden lautstark unterstützt, es folgt „Schalke, ich bin für Dich geboren“.

Auf deutlich weniger Begeisterung als der Einsatz der Spieler in Königsblau stößt die Leistung von Schiedsrichter Daniel Siebert, der mehrere Situationen fälschlicherweise zugunsten der Kiezkicker pfeift und sich so in der 43. Minute gemeinsam mit den „Pauli-Schweinen“ als „Schieber“ betiteln lassen darf. Doch die Strafe folgt auf dem Fuß: Ouwejan startet auf links durch und flankt in die Mitte, der zugestellte Terodde lässt den Ball durch und Kabadayi befördert den Aufsetzer gedankenschnell zum 1:0 über die Linie (44.). Erleichtert brüllen alle Schalker den königsblauen Torjingle „Ein Leben laaaaaang“ raus – wer hätte das gedacht?!

Aus den angezeigten drei Minuten Nachspielzeit werden fast sechs, in denen sich Siebert weiter unbeliebt macht. Ein Foul an Lasme wird nicht gepfiffen, auf der Gegenseite hingegen bekommt Soppy für ein Allerweltseinsteigen gegen Afolayan Gelb. Der Franzose kassiert trotzdem ebenso wie Kabadayi mehrfach Szenenapplaus für seinen beherzten Einsatz, jeder eroberte Ball gefeiert, die ganze Arena steht und schickt Schalke mit lautstarkem Applaus in die Kabinen.

Kann Schalke das Niveau halten?

Die Freude über den tollen Auftritt lässt die Halbzeitunterhaltung durch die Fanbox und Thomas Kirschner für Fanbelange, der unter anderem über die Kids-Club-Reviermeisterschaft, die „Diskriminierungssensible Stadionführung“ und die barrierefreie Auswärtsfahrt nach Hannover in den Hintergrund treten. „Warum nicht gleich so?!“ und „Hoffentlich halten sie das durch!“ sind die meistgehörten Aussagen der Pause.

Zum Wiederanpfiff bringt Pauli-Coach Hürzeler mit Eggestein für Kemlein einen frischen Stürmer, den Schalke nicht in allerbester Erinnerung hat. Ein Distanzschuss von Seguin wird sichere Beute von Keeper Vasilj. Der gutgefüllte Gästeblock stimmt derweil „Wir sind Zecken, asoziale Zecken…“ an, bald übertönt durch „Schalke nur Du alleine bist meine Liebe, mein ganzes Le-he-ben“.

Kabadayi sieht Gelb für Halten gegen Afolayan; Terodde wird sehr robust von Wahl ausgebremst, der Pfiff bleibt aus und trägt Siebert ein weiteres Pfeifkonzert ein. Soppy tunnelt Eggestein (56.), Müller klärt seelenruhig eine Ecke (59.) und Lasme setzt einen Hackentrick neben das Tor (60.). Die Nordkurve ist happy, dass Schalke nicht nachlässt und supportet unermüdlich mit „Für deine Farben leben und sterben wir“ und „Immer wieder S04“.

Kabadayi zum Zweiten!

Nach einer guten Stunde wechseln beide Trainer, Saad kommt für Metcalfe, Topp ersetzt Lasme –auf dem Videowürfel wird allerdings Henning Matriciani gezeigt und sorgt kurzzeitig für Erheiterung. Der Youngster versucht sich kurze Zeit darauf an einem Fallrückzieher (68.), der zwar deutlich zu hoch liegt, ihm aber trotzdem die Begeisterung des Publikums einträgt. Standing Ovations bekommt auch Brandon Soppy, als er durch Brunner ersetzt wird (69.).

Nach einem weiteren Ründchen „Steht auf, wenn Ihr Schalker seid“ dröhnen die „Asozialen Schalker“ durch die Arena, gehen dann aber in einer Jubelexplosion unter: Abschlag Müller, Topp verlängert zu Terodde, Vasilj pariert, der Abpraller landet bei Kabadayi und der bedankt sich mit dem zweiten Treffer zum 2:0 (73.). Auch ein kurzes Zucken des VAR, ob Terodde mit der Hand am Ball war, kann die Freudenstürme nicht stoppen.

Zittern? Nein, Party!

Churlinov kommt für Kabadayi (78.) und provoziert kaum 60 Sekunden später eine gelbe Karte wegen Ballwegschlagens, Terodde und Dzwigala liefern sich einmal mehr ein hitziges Duell, in dem Daniel Siebert trotz sehr rustikalen Einsteigens des Hamburgers einmal mehr kein Foul erkennen kann (82.) und Stürmer Albers ersetzt Innenverteidiger Wahl.

Dann ein Schreck: Plötzlich steht es aus dem Nichts nur noch 2:1, weil Seguin einen Schuss von Saad in die kurze Ecke abfälscht, während Müller bereits ins lange Eck abtaucht (89.). Und zu allem Überfluss befindet Siebert wofür-auch-immer auf sieben lange Minuten Nachspielzeit

Doch das vermeintliche Zittern bis zum Schluss löst sich bereits nach zwei Minuten in einer königsblauen Freudeneskalation auf: Müller und Afolayan giften sich im Schalker Strafraum an, es gibt Freistoß am eigenen Fünfer, Terodde verlängert zu Topp, der nach innen zieht und Karaman eine bildhübsche Vorlage liefert. Der fackelt dann auch nicht lange und vollendet eiskalt und platziert in die lange Ecke. 3:1 in der 90+2. Minute, jaaaaaAAAAA!!!

Nicht nur in der Nordkurve fliegt das Bier tief, auch auf den anderen Tribünen liegen sich Schalker im Freudentaumel in den Armen, die Ersatzspieler stürmen zur Jubeltraube herbei, während vor der Bank die Urgesteine Büskens und Asamoah die Säge machen. Ist! Das! Schön! Der Torschütze bedankt sich mit einer Verbeugung für die Huldigungen des Publikums, der Rest der Nachspielzeit ist eine einzige königsblaue Party, in der Ouwejan (90+6.) und Topp (90+8.) sogar noch zwei Vorstöße starten.

Unerwartete Siege sind die Schönsten!

Der Schlusspfiff zementiert die königsblaue Glückseligkeit, die Schals gehen hoch, inbrünstig wird der Mythos angestimmt: Eine Liebe, die niemals endet – bei der man aber mit allem rechnen muss…

Durch den verdienten Sieg verschafft sich Schalke Luft im Abstiegskampf und steht mit nunmehr 29 Punkten auf rang 13. Noch wichtiger als die drei Zähler aber ist die Art und Weise, wie diese erkämpft und erspielt wurden: Mit dieser Leistung kann Schalke gegen jeden Gegner bestehen!

Als die Mannschaft vor die Kurve tritt, schallt ihr der Mythos und viel Applaus entgegen. Endlich wieder das Gefühl, dass die Mannschaft wirklich alles gibt! Das „Auf geht‘s Schalke kämpfen und siegen!“ ist heute nicht nur „Arbeitsauftrag“, sondern begeisterte Anerkennung für das Gezeigte. Zu „Zeig mir den Platz in der Kurve“ geht es dann, teilweise mit den Kiddies an der Hand, auf die Stadionrunde. Geraerts guckt wie ein kleines Kind unter dem Weihnachtsbaum.

Diese Party haben sich alle Schalker, Spieler wie Fans, nach den nervenaufreibenden letzten Wochen verdient – und mit der heutigen Leistung ist der angestrebte Klassenerhalt zum Greifen nah, wenn das Team konzentriert bleibt. Glückauf!